12

 

Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn so früh am Morgen in ihrem Zimmer zu sehen.

Dylan kam aus der geräumigen Dusche ihrer Gästesuite und rieb sich trocken mit einem der flauschigen Handtücher von dem Stapel, der säuberlich gefaltet auf dem Einbauregal im Badezimmer lag. Sie rubbelte sich das Wasser aus dem Haar und zog sich ihre letzten sauberen Sachen aus dem Rucksack an. Das Trägerhemdchen und die geschnürte Caprihose waren zerknittert, aber schließlich musste sie hier ja niemanden beeindrucken. Barfuß und mit feuchtem Haar, das auf ihren nackten Oberarmen klebte, öffnete sie die Badezimmertür und tappte ins Zimmer hinein.

Und da war er.

Rio, der auf dem Stuhl bei der Tür saß und darauf wartete, dass sie aus dem Bad kam.

Dylan blieb wie angewurzelt stehen, überrascht, ihn zu sehen.

„Ich habe angeklopft“, sagte er, reichlich taktvoll für einen Kidnapper.

„Sie haben nicht geantwortet, also wollte ich sichergehen, dass Sie in Ordnung sind.“

„Schätze, das sollte ich Sie fragen.“ Vorsichtig ging sie weiter in den Hauptraum der Suite hinein. Eigentlich hatte sie keine Veranlassung, sich Sorgen um den Mann zu machen. Schließlich hielt er sie gegen ihren Willen gefangen. Aber die seltsamen Geräusche, die sie vor einigen Stunden im Nebenzimmer gehört hatte, beunruhigten sie immer noch.

„Was war letzte Nacht mit Ihnen los? Sie klangen, als ging es Ihnen wirklich dreckig.“

Er gab ihr keine Erklärung, sondern starrte sie nur über den dämmerig erleuchteten Raum hinweg an. Wie sie ihn so ansah, fragte sie sich, ob sie sich das Ganze nicht nur eingebildet hatte. In seinem taubengrauen T-Shirt und den maßgeschneiderten dunkelgrauen Hosen, das dunkle Haar perfekt aus dem Gesicht gestrichen, wirkte er ausgeruht und entspannt. Immer noch ein düsterer Mann von wenigen Worten, aber weniger nervös. Tatsächlich sah er so aus, als hätte er die ganze Nacht geschlafen wie ein Baby, während sich Dylan, die seit vier Uhr morgens wach gelegen und sich über ihn Gedanken gemacht hatte, fühlte wie von einem Lastwagen überrollt.

„Könnten Sie vielleicht Ihren Freunden sagen, dass sie den Timer an den Sonnenblenden reparieren müssen?“, sagte sie und zeigte auf das hohe Fenster, durch das inzwischen eigentlich helles Tageslicht in den Raum strömen sollte, aber die elektronisch ferngesteuerten Sonnenblenden waren immer noch geschlossen. „Letzte Nacht haben sie sich automatisch geöffnet und gingen vor Sonnenaufgang wieder zu. Nicht ganz der Sinn der Sache, oder? Übrigens eine schöne Aussicht, sogar im Dunkeln. Was ist das für ein See da draußen - der Wannsee? Er ist wohl etwas zu groß, um der Grunewaldsee oder der Teufelssee zu sein, und so alt, wie die Bäume sind, die um den Park herumstehen, müssten wir irgendwo in der Nähe der Havel sein. Da sind wir doch, oder?“

Keine Reaktion auf der anderen Zimmerseite. Er atmete nur langsam aus und betrachtete sie mit dunklen, unergründlichen Augen.

Er hatte ihr Frühstück mitgebracht. Dylan schlenderte hinüber zu dem niedrigen Couchtischchen und dem eleganten Sofa in der Mitte des Wohnbereichs, wo sie eine cremeweiße Porzellanplatte mit einem Omelette, Würstchen, Bratkartoffeln und reichlich Toast erwartete.

Daneben standen ein Glas Orangensaft und Kaffee, und unter dem massivsilbernen Essbesteck klemmte eine gestärkte weiße Leinenserviette. Dem Kaffee konnte sie nicht widerstehen, als sie hinübergegangen war, um sich anzusehen, was er ihr gebracht hatte.

Sie warf zwei Stück Würfelzucker in die Tasse und goss Sahne hinein, bis der Kaffee einen hellbraunen Farbton erreicht hatte, süß und milchig, genau wie sie ihn mochte.

„Wissen Sie, mal abgesehen davon, dass Sie mich hier gegen meinen Willen gefangen halten, muss ich zugeben, dass Sie Ihre Geiseln wirklich gut behandeln.“

„Sie sind keine Geisel, Dylan.“

„Nein, schon eher eine Gefangene. Oder zieht Ihre Spezies, wie Sie immer sagen, einen weniger drastischen Ausdruck vor - Schutzbefohlene vielleicht?“

„Sie sind nichts Derartiges.“

„Prima!“, erwiderte sie mit gespieltem Enthusiasmus. „Wann kann ich dann nach Hause gehen?“

Sie rechnete nicht damit, dass er darauf antwortete. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schlug die langen Beine übereinander, einen Knöchel über das andere Knie gelegt. Heute war er nachdenklich, als wüsste er nicht genau, was er mit ihr anfangen sollte. Und als sie sich auf das Sofa setzte und begann, an einer gebutterten Toastscheibe zu knabbern, entging ihr auch nicht, dass sein erhitzter Blick auf ihrem Körper verweilte.

Und besonders auf ihrem Hals.

Plötzlich klang ihr wieder in den Ohren, was er vor einigen Stunden zu ihr gesagt hatte: Ich kann dich riechen, Dylan, und ich will dich schmecken. Ich will dich ...

Das hatte sie sich definitiv nicht eingebildet. Seit er diese Worte durch die Tür geknurrt hatte, waren sie ihr im Kopf geblieben, sie hatte sie praktisch auf Endlosschleife wieder und wieder gehört. Und als er sie nun so genau betrachtete, mit einem grüblerischen, definitiv sinnlichen Interesse, konnte Dylan kaum atmen.

Sie senkte den Blick auf ihren Teller und fühlte sich auf einmal sehr befangen.

„Sie starren mich an“, murmelte sie. Es machte sie verrückt, so stumm von ihm gemustert zu werden.

„Ich frage mich nur gerade, wie es sein kann, dass eine intelligente junge Frau wie Sie sich so einen Job aussucht. Das passt irgendwie nicht zu Ihnen.“

„Es passt schon“, meinte Dylan.

„Nein“, sagte er. „Es passt gar nicht. Ich habe einige der Artikel auf Ihrem Laptop gelesen - einschließlich ein paar von den älteren. Die haben Sie nicht für dieses Schundblatt geschrieben, bei dem Sie gerade angestellt sind.“

Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, sein Lob war ihr unangenehm. „Diese Dateien sind privat. Es passt mir ganz und gar nicht, dass Sie auf meiner Festplatte herumschnüffeln, als wäre es Ihre eigene.“

„Sie haben eine Menge über einen Mordfall im New Yorker Umland geschrieben. Die Artikel, die ich auf Ihrem Laptop gelesen habe, sind schon ein paar Jahre alt, aber sie sind gut, Dylan. Sie schreiben klug und fesselnd. Besser, als Sie denken.“

„Himmel“, murmelte Dylan. „Sagte ich nicht eben, diese Dateien sind privat?“

„Das sagten Sie. Aber jetzt bin ich doch neugierig. Warum hat Ihnen dieser spezielle Fall so viel bedeutet?“

Dylan schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück, weg von ihrem Frühstücksteller. „Es war meine erste Auftragsarbeit, als ich frisch vom College kam. Ein kleiner Junge verschwand, in einem Städtchen im Norden. Die Polizei hatte weder Verdächtige noch irgendwelche Spuren, aber es wurde vermutet, dass der Vater etwas damit zu tun hatte. Ich wollte mir einen Namen machen, also begann ich, die Geschichte des Mannes zu recherchieren. Er war ein genesender Alkoholiker, der nie einen festen Job gehabt hatte, einer von diesen typischen Rabenvätern.“

„Aber war er ein Mörder?“, fragte Rio nüchtern.

„Ich dachte, er war es, obwohl es dafür wirklich nur Indizien gab.

Aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass er es war. Ich mochte ihn nicht, und ich dachte, wenn ich nur gründlich genug suchte, würde ich schon etwas finden, um ihn dranzukriegen. Nach ein paar Sackgassen fand ich schließlich ein Mädchen, das früher einmal auf seine Kinder aufgepasst hatte. Als ich sie für meine Story befragte, sagte sie mir, dass sie blaue Flecken auf dem Jungen gesehen hätte. Sie sagte, der Typ hätte seinen Sohn geschlagen, sie hätte es sogar selbst einmal mit angesehen.“ Dylan seufzte. „Ich habe das alles in die Story aufgenommen. Ich war so wild darauf, sie zu veröffentlichen, dass ich meine Quelle nicht überprüft habe.“

„Was ist passiert?“

„Wie sich herausstellte, hatte der Babysitter mit dem Kerl geschlafen und noch persönlich ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Er war vielleicht nicht gerade der Vater des Jahres, aber er hat seinen Sohn nie angerührt und ihn definitiv auch nicht umgebracht. Nachdem ich aus der Redaktion geflogen bin, ist der Fall dann versandet. Später brachten DNA-Spuren den Tod des Jungen mit einem Mann in Verbindung, der nebenan wohnte. Der Vater war unschuldig, und ich habe den seriösen Journalismus an den Nagel gehängt.“

Rio hob eine seiner dunklen Augenbrauen. „Und Sie befassen sich nur noch mit Elvis-Sichtungen und Entführungen durch Außerirdische.“

Dylan zuckte die Schultern. „Tja, es ging steil bergab mit mir.“

Wieder starrte er sie an, beobachtete sie mit demselben nachdenklichen Schweigen wie zuvor. Sie konnte nicht klar denken, wenn er sie so anstarrte. Sie fühlte sich irgendwie bloßgestellt, verletzlich, ein Gefühl, das sie ganz und gar nicht mochte.

„Wir reisen heute Abend ab, wie ich gestern schon gesagt habe“, brach er die unbehagliche Stille. „Sie werden ein frühes Abendessen bekommen, wenn Sie möchten, und zu Sonnenuntergang werde ich kommen und Sie auf die Reise vorbereiten.“

Das klang nicht gut. „Mich vorbereiten? Wie?“

„Wir können nicht zulassen, dass Sie diesen Ort oder auch unser Reiseziel identifizieren können. Bevor wir also heute Abend aufbrechen, werde ich Sie in eine leichte Trance versetzen müssen.“

„In eine Trance. So was wie Hypnose?“ Sie musste lachen.

„Kommen Sie, hören Sie schon mit Ihrem Hokuspokus auf. Diese Dinge wirken bei mir sowieso nie. Ich bin immun gegen die Macht der Suggestion, da brauchen Sie nur meine Mutter oder meinen Boss zu fragen.“

„Das hier ist anders. Und es wird auch bei Ihnen wirken. Das hat es schon.“

„Wovon reden Sie - das hat es schon?“

Er zuckte vage mit der Schulter. „An wie viel von der Fahrt von Prag hierher können Sie sich erinnern?“

Dylan runzelte die Stirn. Da gab es wirklich nicht allzu viel. Sie erinnerte sich daran, wie Rio sie hinten in den Laster gestoßen hatte, und an die Dunkelheit, als das Fahrzeug angefahren war. Sie erinnerte sich daran, dass sie große Angst gehabt hatte und wissen wollte, wohin er sie brachte und was er mit ihr vorhatte. Dann ... nichts.

„Ich habe versucht, wach zu bleiben, aber ich war so müde“, murmelte sie und versuchte, sich wenigstens an eine weitere Minute der Fahrt zu erinnern, die doch einige Stunden gedauert haben musste.

Aber da war rein gar nichts.

„Ich bin unterwegs eingeschlafen. Als ich aufwachte, war ich in diesem Zimmer ...“

Das leise Kräuseln seiner Lippen kam ihr ein wenig zu selbstzufrieden vor. „Und dieses Mal werden Sie wieder schlafen, bis ich will, dass Sie aufwachen. Es muss leider so sein, Dylan, tut mir leid.“

Sie wollte einen Scherz darüber machen, wie lächerlich diese ganze Situation klang - angefangen von dem Vampirblödsinn, den er ihr gestern hatte andrehen wollen, bis zu diesem Gerede von Trancezuständen und Reisen zu geheimen Orten -, aber plötzlich kam es ihr nicht mehr witzig vor.

Es schien auf eine unmögliche Art ernst zu sein.

Plötzlich kam ihr das Ganze nur allzu real vor.

Sie sah ihn an, wie er so dasaß, dieser Mann, der so anders war als jeder andere Mann, den sie je kennengelernt hatte, und etwas flüsterte in ihrem Unterbewusstsein, dass es kein Scherz war. Alles, was er ihr gesagt hatte, war wahr, so unglaublich es sich auch anhörte.

Dylans Blick fiel von seinem stoischen, undurchdringlichen Gesicht auf die mächtigen Arme, die er über seinem massigen Brustkorb verschränkt hatte. Die Tattoos, die sich um seinen Bizeps und Unterarm wanden, sahen anders aus, als sie sie zuletzt gesehen hatte. Sie waren jetzt heller, nur ein paar Schattierungen dunkler als sein olivbrauner Hautton. Gestern waren die Farben Rot und Gold gewesen - da war sie sich ganz sicher.

„Was ist mit Ihren Armen passiert?“, platzte sie heraus. „Tattoos verändern doch nicht einfach so ihre Farbe...“

„Nein“, sagte er und sah hinunter auf die nun kaum sichtbaren Zeichnungen. „Tattoos verändern nicht einfach so ihre Farbe.

Dermaglyphen schon.“

„Dermaglyphen?“

„Natürliche Hautzeichnungen, die unter Stammesvampiren vorkommen. Sie werden vom Vater auf den Sohn vererbt und dienen als Indikator der individuellen emotionalen und physischen Verfassung.“ Rio schob die kurzen Ärmel seines T-Shirts hoch und enthüllte mehr von dem komplizierten Muster auf seiner Haut. Wunderschöne geschwungene und geometrische Stammeszeichen zogen sich ihm bis ganz auf die Schultern hinauf und verschwanden unter seinem Shirt.

„Für die Vorfahren der Rasse funktionierten die Dermaglyphen als schützende Tarnung. Die Körper der Alten waren von Kopf bis Fuß von ihnen bedeckt. Jede neue Stammesgeneration wird mit weniger und schlichteren Mustern geboren, da sich die ursprüngliche Blutlinie immer mehr mit Homo-sapiens-Blut verdünnt.“

Dylan drehte sich der Kopf, sie hatte so viele Fragen, dass sie gar nicht wusste, welche sie zuerst stellen sollte. „Ich soll also glauben, dass Sie nicht nur ein Untoter sind, sondern dass die Untoten sich auch noch vermehren können?“

Er sah sie mit milder Verachtung an. „Wir sind keine Untoten. Der Stamm ist eine sehr alte, langlebige, hybride Spezies, die vor Tausenden von Jahren auf diesem Planeten entstand. Genetisch sind wir teils Menschen, teils Wesen aus einer anderen Welt.“

„Wesen einer anderen Welt“, wiederholte Dylan ruhiger, als sie gedacht hätte. „Sie meinen ... Außerirdische? Nur um das mal klarzustellen, Sie reden hier von außerirdischen Vampiren. Verstehe ich das richtig? Ist es das, was Sie sagen?“

Rio nickte. „Acht solcher Kreaturen mussten vor langer Zeit auf der Erde notlanden. Sie vergewaltigten und töteten unzählige Menschen.

Irgendwann fielen diesen Vergewaltigungen Frauen zum Opfer, die den außerirdischen Samen aufnehmen und austragen konnten. Diese Frauen waren die ersten bekannten Stammesgefährtinnen. Aus ihrem Schoß kam die erste Generation meiner Spezies - des Stammes.“

Alles, was sie da zu hören bekam, grenzte haarscharf an reinen Wahnsinn, aber Rios Ton klang aufrichtig. Er glaubte hundertprozentig an das, was er da sagte. Und weil er dabei so ernst war, fiel es Dylan schwer, es einfach als Unsinn abzutun.

Und schließlich konnte sie selbst bestätigen, dass die Muster auf seiner Haut, was immer sie auch waren, etwas getan hatten, das jeder Logik zuwiderlief. „Ihre Dermaglyphen sind heute nur eine Spur heller als Ihre Haut.“

„Ja.“

„Aber gestern waren sie eine Mischung von Rot und Gold, weil...“

„Weil ich Nahrung zu mir nehmen musste“, sagte er ruhig. „Ich brauchte dringend Blut, und zwar direkt aus einer offenen menschlichen Vene.“

Oh Himmel noch mal. Das war ja wirklich sein Ernst.

Dylans Magen hob sich.

„Also haben Sie ... gestern Abend Nahrung zu sich genommen?

Wollen Sie damit sagen, dass Sie gestern Nacht ausgegangen sind und jemandem das Blut ausgesaugt haben?“

Fast unmerklich nickte er. Reue lag in seinem Blick, eine Art persönliche Pein, die ihn zur gleichen Zeit tödlich und verletzlich wirken ließ. Er saß da, offenbar so begierig, sie davon zu überzeugen, dass er ein Monster war, aber sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie einen gehetzteren Gesichtsausdruck gesehen.

„Sie haben kein Vampirgebiss“, bemerkte sie lahm, ihr Verstand weigerte sich immer noch, zur Kenntnis zu nehmen, was er ihr da sagte. „Haben nicht alle Vampire Fangzähne?“

„Wir haben sie, aber sie sind normalerweise nicht auffällig. Unsere oberen Eckzähne verlängern sich mit dem Drang, Nahrung zu uns zu nehmen, oder als Reaktion auf emotionalen Aufruhr. Der Prozess ist physiologisch, ähnlich wie die Reaktionen unserer Dermaglyphen.“

Während er sprach, beobachtete Dylan genau seinen Mund. Seine Zähne hinter den vollen, sinnlichen Lippen waren gerade, weiß und stark. Sein Mund wirkte nicht wie einer, der für Gräueltaten gemacht war, sondern um zu verführen. Und das machte ihn wahrscheinlich nur noch gefährlicher. Rios wundervoll geschwungener Mund war einer, den jede Frau auf ihrem willkommen heißen würde, ohne zu ahnen, wie tödlich er sein könnte.

„Wegen unserer außerirdischen Gene sind unsere Haut und Augen übersensibel gegen Sonnenlicht“, fügte er hinzu, so ruhig, als rede er über das Wetter. „Sich ihm länger auszusetzen ist für alle Stammesvampire tödlich. Darum sind die Fenster tagsüber verhängt.“

„Oh“, murmelte Dylan und merkte, dass sie verständnisvoll nickte, als ergäbe das einwandfrei Sinn.

Natürlich mussten sie das UV-Licht abblocken. Jeder Idiot wusste, dass Vampire in Flammen aufgingen wie Papiertaschentücher unter einem Vergrößerungsglas, wenn man sie an die Sonne ließ.

Jetzt, wo sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie Rio kein einziges Mal draußen bei Tageslicht gesehen hatte. In der Berghöhle war er vor der Sonne geschützt gewesen. Als er sie von Jicín nach Prag verfolgte, war es spät am Abend gewesen, in völliger Dunkelheit.

Letzte Nacht war er auf Beutefang ausgegangen, aber offenbar rechtzeitig vor der Morgendämmerung wieder zurückgekommen.

Jetzt reiß dich aber mal zusammen, Alexander.

Dieser Mann war kein Vampir. Es musste für all das eine bessere Erklärung geben. Nur weil Rio ruhig und vernünftig klang, hieß das noch lange nicht, dass er deshalb nicht vollkommen geistesgestört war und Wahnvorstellungen hatte. Ein klarer Fall für die Klapse. Es musste einfach so sein.

Was war mit den anderen Leuten hier in diesem hochnoblen Anwesen? Einfach nur weitere Vampirspinner wie er, die glaubten, dass sie von einer sonnenallergischen außerirdischen Rasse abstammten?

Und hier war sie, Teilnehmerin wider Willen, entführt und gefangen gehalten von einer millionenschweren bluttrinkenden Sekte, deren Mitglieder glaubten, dass sie irgendwie mit ihnen verbunden war, nur weil sie ein bestimmtes Muttermal hatte. Zur Hölle noch mal, das klang wirklich wie ein absoluter Knüller für ihre Titelseite.

Aber wenn irgendetwas, das Rio gesagt hatte, wahr war?

Herr im Himmel, wenn auch nur irgendetwas von dem eben Gehörten stimmte, dann saß sie auf einer Story, die sprichwörtlich die Welt verändern würde. Eine Story, die die Wirklichkeit für jedes menschliche Wesen auf der Welt verändern würde. Ein Frösteln stieg ihr die Wirbelsäule hinauf, als sie über die ungeheure Tragweite der Sache nachdachte.

„Ich habe eine Million Fragen“, murmelte sie und wagte einen Blick über den Raum auf Rio.

Er nickte und stand vom Stuhl auf. „Das ist verständlich. Ich habe Ihnen recht viel auf einmal zugemutet, das Sie verarbeiten müssen, und Sie werden sogar noch mehr hören, bevor es für Sie an der Zeit ist, sich zu entscheiden.“

„Zu entscheiden?“, fragte sie und folgte ihm mit den Augen, als er zur Tür hinüberging, um das Zimmer zu verlassen. „Jetzt warten Sie doch eine Sekunde. Was werde ich entscheiden müssen?“

„Ob Sie dauerhaft zu uns gehören wollen oder in Ihr altes Leben zurückkehren, ohne jede Erinnerung an uns.“

 

Das Frühstück, das Rio ihr gebracht hatte, aß sie nicht, und das Abendessen, das er ihr später am Tag servierte, blieb auch unberührt.

Sie konnte einfach nichts essen - sie hungerte nach Antworten.

Aber er hatte sie angewiesen, sich ihre Fragen aufzuheben, und als er zurückkam, um ihr Bescheid zu geben, dass die Zeit zum Aufbruch gekommen war, fühlte Dylan plötzlich eine Welle der Beklemmung.

Ein Tor öffnete sich vor ihr, aber auf der anderen Seite lag nichts als Dunkelheit. Wenn sie in diese Dunkelheit hineinsah, würde sie sie verschlingen?

Würde es für sie einen Weg zurückgeben?

„Ich weiß nicht, ob ich bereit dafür bin“, sagte sie, gefangen in der hypnotisierenden Falle von Rios Augen, als er im Zimmer auf sie zukam. „Ich ... ich habe Angst davor, wo wir hingehen. Davor, was ich dort sehen werde.“

Dylan sah auf in das gut aussehende und zugleich so tragisch entstellte Gesicht ihres Entführers und wartete auf einige ermutigende Worte - irgendetwas, das ihr Hoffnung gab, am Ende heil aus dieser ganzen Sache herauszukommen.

Er bot ihr nichts Derartiges, aber als er die Hand ausstreckte und sie ihr flach auf die Stirn legte, war seine Berührung sanft, unglaublich warm. Gott, es fühlte sich so gut an.

„Schlaf“, sagte er. Der Befehl klang wie das weiche Flüstern von Samt auf nackter Haut. Er schlang seinen anderen Arm um ihren Rücken, gerade als ihre Knie unter ihr nachgaben. Sein Griff, mit dem er sie hielt, war stark und tröstlich. Ich könnte schmelzen an dieser Stärke, dachte sie, als ihr langsam die Augen zufielen. „Schlaf jetzt, Dylan“, flüsterte er an ihrem Ohr. „Schlaf.“ Und das tat sie.

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